Heinrich Stertkötter in der Fremde

Dieser Text entstand schon im Oktober 2004 beim Instant Stories Live Contest auf Kurzgeschichten-Planet.de. Man kriegt dort ein Thema vorgegeben, zu dem man innerhalb von 90 Minuten eine Geschichte schreiben muss. Diese Zeitvorgabe sorgt für heftige Adrenalinstöße und gelegentliche Stilblüten, aber häufig sind die Resultate erstaunlich gut. Mehr am Schluss, erstmal der Text:

Heinrich Stertkötter fühlte sich sehr alt. Er wollte sterben.
Die ersten fünfzig Jahre seines Lebens waren im Großen und Ganzen recht problemlos verlaufen, aber am gestrigen Abend hatte er mit den chinesischen Kollegen seinen Fünfzigsten gefeiert, runder Geburtstag und so, und jetzt lag er im Bett und wusste nicht, wie er diesen Tag überleben sollte. Reiswein war ein Teufelszeug.

Stöhnend rollte er herum und schwang die Beine über die Bettkante. Dann hielt er einen Moment still, bis das Bett aufgehört hatte zu schwanken, holte Luft, stand auf und wankte todesmutig zum Waschbecken hinüber, wo er sich erleichtert auf den Hocker fallen ließ. Dies würde ein langer Tag werden, und Heinrich Stertkötter fühlte sich sehr, sehr alt.

Beim Frühstück, es gab chinesischen Kaffee und eine israelische Orange, ließ er den gestrigen Abend Revue passieren. An das meiste konnte er sich noch ganz gut erinnern: ein paar Geschenke, viele Glückwünsche, noch mehr Trinksprüche. Wirklich viele Trinksprüche. Sein Dolmetscher hatte sich große Mühe gegeben, aber zu fortgeschrittener Stunde wurden die Lieder und Witze immer sonderbarer, und es hatte den Übersetzungen nicht geholfen, dass der gute Zhang natürlich bei jeder Runde mittrinken musste. Er konnte sich noch daran erinnern, dass Zhang irgendwann lallend an seinem Ärmel hing und aus dem Chinesischen ins Chinesische zu übersetzen schien. Dem dürfte es heute morgen auch nicht gerade gut gehen. Stertkötter grinste bitter in seinen Kaffeepott.

Nun war er also fünfzig. Erstaunlich, eigentlich: eben noch studiert, dann — zack! Frau, Kinder, Haus, fünfzig.
Fünfzig.
Erschreckend.
Offenbar gab es im Chinesischen einen ähnlichen Sinnspruch wie im Deutschen: ein Mann sollte in seinem Leben ein Haus gebaut, einen Sohn gezeugt und einen Baum gepflanzt haben. Einen Sohn gezeugt, hehe. Klar, die Chinesen hatten es ja nie so mit den Töchtern. Aber egal, einen Sohn hatte er ja auch schon vorzuweisen, dreie sogar. Kein Vergleich zu den acht Geschwistern, mit denen Stertkötter aufgewachsen war, aber die Zeiten ändern sich. Seine Mutter hätte auch nie mit Scheidung gedroht. Nie. Egal: die Zeiten ändern sich. Stertkötter seufzte und schenkte sich Kaffee nach.
Und Häuser? Dutzende. Brachte der Beruf eines Hochbauingenieurs so mit sich. Mit Ende dieses Projektes würde er sogar einen Flughafen auf die Liste setzen dürfen. Schönes Ding. Bisschen weit ab vom Schuss, aber die Stadt würde schon noch bis an den Flughafen heranwachsen, das konnte man sehen. Schönes Ding. Stertkötter seufzte wieder.
Ein Baum. Nein, er konnte sich nicht erinnern, einen Baum gepflanzt zu haben. Albern eigentlich: mehr als einen Kirschkern, eine Kastanie, eine Eichel oder auch nur einen dummen Apfelgriebsch bräuchte es doch gar nicht. Komisch, dass er das noch nie gemacht hatte. Selbst der Garten hinter dem Haus hatte Büsche und Beerensträucher, aber keinen einzigen Baum. Zuviel Schatten, hatte seine Frau gesagt.
Vielleicht nach der Scheidung.
Stertkötter seufzte, trank den letzten Kaffee und starrte versonnen aus dem Fenster.

Eine Viertelstunde später sahen ein paar pausierende Arbeiter, wie Stertkötter aus seinem Container kam und sich auf das Fahrrad schwang. Schwankend, aber entschlossen radelte er die staubige Baustraße zum Tor, wich auf dem Weg ein paar Lastern aus und verfehlte nur mit Glück die größeren Schlaglöcher, dann hatte er endlich das riesige Baustellengelände verlassen. Die Sonne stach ihm in die Augen und sein Magen wobbelte wie eine Qualle, aber nach einem weiteren Kilometer war das Ziel erreicht: ein kleines Wäldchen direkt an der Zufahrtsstraße. Stertkötter stieg vom Fahrrad, ließ es unzeremoniell umfallen und näherte sich den Bäumen. Sie waren recht groß, mit kugeliger Krone und kleinen, grünen, runden Früchten, die ihn vage an unreife Mandarinen erinnerten. Er konnte sich nicht entsinnen, solche Bäume oder Früchte je gesehen zu haben, aber Botanik hatte ihn ja nie interessiert. Seine Frau kannte dreihundert Blumensorten mit Pflegebedingungen, Pflanzzeiten und lateinischem Namen, während er immer zu sagen pflegte, er könne eine Begonie nicht von einer Pergola unterscheiden.

Ein wenig unschlüssig wanderte Stertkötter zwischen den Bäumen umher, bis er sich schließlich für einen mit besonders schönen Fruchtbällchen entschieden hatte. Die ersten Äste waren in fast drei Metern Höhe, und er brauchte mehrere Anläufe, bis er einen zu packen gekriegt hatte. So weit, so gut. Verbissen hielt er sich fest und versuchte, mit den Füßen den Stamm hinaufzulaufen, aber die Schuhsohlen rutschten ständig von der Baumrinde ab. Nach kurzer Zeit schon fingen die Hände an zu schmerzen, und als er es endlich geschafft hatte, seine Beine über den Ast zu schwingen, unternahm der scheußliche chinesische Kaffee einen Ausbruchsversuch. Stertkötter fiel wie ein Stein und kotzte sich die Seele aus dem Leib.

Wer heute von Huang-Dong aus die Straße zum Flughafen nimmt, erreicht kurz vor dem Flughafengelände ein Wäldchen, welches bisher von der Kettensäge und dem Pflug verschont geblieben ist, und in diesem Wäldchen wächst inmitten der chinesischen Feigen auf einer Lichtung ein einzelner, kleiner Orangenbaum.

Tja. Das war, abgesehen von ein paar Tippfelhern, der Wettbewerbsbeitrag vom Oktober 2004. Was dabei interessant ist: ich hatte von den 90 Minuten ungefähr 10 mit Handlungsplanung, 15 mit Pflanzenrecherche und bestimmt nochmal 10 Minuten damit verbracht, mir einen schönen bodenständigen Namen für den Protagonisten zu überlegen. Mit „Heinrich Stertkötter“ war ich sehr zufrieden, das klang wunderbar westfälisch geerdet. Erst Wochen später fiel mir bei der Lektüre eines Artikels über die „Bullemänner“ auf, dass ich offensichtlich schon einmal irgendwo von diesen beiden westfälischen Kabarettisten gelesen hatte und der Name einer ihrer Kunstfiguren wohl hängengeblieben war. Ich habe den Namen jetzt nicht mehr geändert; vielleicht komme ich irgendwann auch mal dazu, ein Programm von den beiden anzusehen…

Hinterlasse einen Kommentar