Der beste Zirkus der Welt

halbnackt, aber Schienbeinschoner

Mannomann. Seit ich am Montag in Recklinghausen im Ufo-Zelt von No Fit State deren letzte Tabu-Vorstellung in Deutschland gesehen habe, muss ich immer wieder an den besten Zirkus zurückdenken, die ich je erlebt habe. Das war kein Kinderzirkus (obwohl der Zwerg auch begeistert war), das ist ein sehr erwachsener Zirkus. Es war wild, es war laut, es war sexy, es war rockig-dreckig-schnell, es war eine Mischung aus Straßenfest, Achterbahn, Punk-Konzert, modernem Theater und Hochleistungssport.

In den letzten Jahren habe ich so einige Zirkusvorstellungen gesehen. Da waren auch ein paar dabei, die wie der Cirque de Soleil ohne Tiere auskamen und versuchten, die alten Zirkustraditionen zu sprengen und eine Gesamtgeschichte zu erzählen — aber so etwas wie diese Truppe habe ich noch nie gesehen.

dsc_9454_smDa ist nichts mit geordneten Nummern, da gibt es keinen Zirkusdirektor, der sich hinstellt und den nächsten Artisten vorstellt, da kommt kein Clown mit roter Nase und macht blöde Witze, da hockt keine gelangweilte Blechkapelle über dem Sattelgang und trötet die immer gleichen Lieder, nein! Da ist zwei Stunden lang artistische Dauer-Äkschn, da gibt es Feuernummern, Wassernummern und jede Menge Luftnummern, da röhrt eine ständig wechselnde Combo wilde Lieder, die an Tom Waits oder Poems for Laila erinnern, da wirbelt manchmal ein Dutzend Leute gleichzeitig durch die Luft, in den verschiedensten Ecken des Zeltes, und manche nur einen Schritt von den Zuschauern entfernt. Oft genug weiß man wirklich nicht, wo man zuerst hinschauen soll, weil gerade vor, hinter, neben und über einem irgendwas passiert. Wenn diese Kompagnie eine Möglichkeit gefunden hätte, auch noch unter dem Publikum irgendwelche spektakulären Aktionen zu bringen, dann hätten sie das längst eingebaut.

Ein paar Punkte, ohne besondere Ordnung:

  • es gibt keine Sitzplätze: das gesamte Zirkuszelt wird bespielt. Das Publikum schwappt während der Vorstellung mal hierhin, mal dorthin
  • fast jeder der Artisten singt gelegentlich, fast jeder der Musiker spielt mehrere Instrumente — und das ziemlich gut
  • es gibt keine Motoren: wenn etwas in die Kuppel rauf soll, dann klettern Leute die Masten hoch, klinken sich in Seile ein und lassen sich fallen oder klettern kopfüber wieder runter, so dass das Trapez/der Ring/das Trampolin/wasauchimmer hochgezogen wird. Das funktioniert ausgezeichnet und sieht oft spektakulär aus
  • die Kostüme wirkten teilweise, als wäre ein Theaterfundus explodiert: Trapezartistinnen nicht in Glitzer-Bikinis, sondern in wallenden Röcken? Männliche Hula-Hoop-Tänzer mit Hut und Zigarre? Rhönradartisten im weißen Dreiteiler? Halbnackte Punks mit Knie- und Schienbeinschonern?
  • das Schaukelpferd kann ganz erstaunlich beschleunigen
  • in verschiedenen Ecken hängen Monitore, die kleine vorproduzierte Filmchen zu zeigen oder Details der aktuellen Nummer. Eine Filmerin mit Videokamera turnt in den Masten herum, um diese Ausschnitte einzufangen
  • es gibt in der Truppe verdammt gut aussehende Menschen
  • im Nachhinein betrachtet war das Tempo der Nummern ganz erstaunlich ausgewogen: gerade, wenn man von einer schnellen, wilden Nummer schon fast überreizt war, kam eine langsame und poetische. Es war nie überwältigend, aber es war auch nie langweilig. Tolle Mischung.
  • wo sonst findet man eine Hochseilartistin, die erst einen halben Striptease abzieht und sich dann quer auf das Seil hockt und grinsend eine Zigarette rollt?

Leider ist No Fit State jetzt unterwegs nach Südfrankreich, sonst hätte ich gleich versucht, noch Karten für eine der nächsten Vorstellungen zu kriegen. Nach dieser Vorstellung war ich noch Stunden später aufgewühlt und glücklich, und es schien den anderen Zuschauern ähnlich zu gehen. Das war wirklich beeindruckend…

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